Durch die Namib in den Süden

   Ab heute geht es für vier Tage auf die Piste - im wahrsten Sinne des Wortes: Auf staubigem Schotter und "Wellblech" werden wir den Namib-Naukluft-Park in Richtung Süden durchqueren.
   In Swakopmund füllen wir unsere Getränke-Vorräte auf sowie die Tanks, und Hans bekommt - natürlich bei einem deutschen Optiker - eine neue Schraube in seine kaputte Brille. Wir hoffen, bei der Nissan-Vertretung einen neuen Frontscheiben-Gummi einsetzen lassen zu können. Leider Fehlanzeige: Aber der weiße, mittlerweile schon arg mitgenommene Paket-Klebestreifen wird durch einen braunen ersetzt. Soll uns auch recht sein - wenigstens ist er frisch und sollte wieder für eine Weile den Gummi in der Führung halten.
   An der Zufahrt zum Namib-Naukluft-Park ist das Filmteam, von dem Hans 2 berichtet hat, immer noch zugange. Aber wir haben Glück: Offenbar sind die Dreharbeiten so weit fortgeschritten, dass die Straße für den Durchgangsverkehr wieder geöffnet ist.
   Mit Permits für den Namib-Naukluft-Park und den "Welwitschia Trail" machen wir uns auf den Weg hinein in die Wüste - durch Wadis des Swakop-Flusses mit vereinzelt stehenden Kameldorn Bäumen, und durch den Kuiseb-Canyon, wo sich während des Zweiten Weltkriegs zwei deutsche Geologen, Henno Martin und Hermann Korn, versteckt hielten. Ihr Buch "Wenn es Krieg gibt, gehen wir in die Wüste" erzählt die unglaubliche Geschichte ihrer Flucht vor einer drohenden Internierung durch Südafrikaner.
   Beeindruckend und viel hübscher als auf Fotos, auf denen sie eher wie ein zerfledderter, verwelkter Riesensalat anmutet, nimmt sich die "Welwitschia mirabilis" in natura und dieser unwirklichen Landschaft aus. Diese namibische Riesenpflanze ernährt sich fast ausschließlich von der Feuchtigkeit der von der Atlantikküste einfallenden Morgennebel. Das größte, durch einen Zaun geschützte Exemplar soll 1500 Jahre alt sein. Man muss sich schon wundern, dass trotz der zahlreichen Besucher so viele ihrer Art hier überlebt haben. Denn, wird der Boden um die Pflanze zu stark festgetreten, nimmt das sensible, ganz flach gefächerte Wurzelwerk Schaden. Schutzmaßnahmen wie der hohe Zaun und ausgelegte Steinbegrenzungen um einzelne ältere Welwitschias haben daher ihre Berechtigung.
   Vor uns liegt heute nur noch eine Zweistunden-Fahrt auf breiter, gepflegter Schotterpiste. Die "Paths" werden regelmäßig gewalzt, ab und zu begegnen wir den schweren Raupen, die Fahrrillen und Löcher glätten. Unangenehm nur, bei höherer Geschwindigkeit in eine ihrer aufgewühlten Fahrspuren zu geraten. Mittlerweile sind wir nämlich schon ganz wagemutig mit 90 oder 100 unterwegs - auch wenn's Linda immer noch nicht ganz geheuer ist. Wenigstens ist nicht sie am Steuer, als irgendwann einem heftigen Schlag das unmissverständliche Pfeifen entweichender Luft folgt. Ein Platten gehört in Namibia wohl dazu, aber gleich auf den ersten 100 Kilometern in der Wüste finden wir das ärgerlich. Ganz zu schweigen von dem einzigen Ersatzreifen, den wir nun schon in Anspruch nehmen müssen. Möge uns die Namib künftig wohl gesonnen sein - denn bis Lüderitz, wo wir erst in fünf Tagen eintreffen, dürfte der Erwerb eines passenden Reifens problematisch werden. Besser nicht weiter darüber nachdenken - nach Swakopmund fahren wir jedenfalls nicht wieder zurück!
    So steuern wir - nicht mehr ganz mit Tempo 100 - unser heutiges Fahrtziel an, die "Rostock Ritz Desert Lodge". Wir sind schon gespannt auf die verrückten "Iglus in der Wüste", die auf Fotos etwas surreal wirken. Natürlich sind die Bungalows traditionellen Rundhütten nachempfunden und passen absolut perfekt in diese fantastische, weite Landschaft aus gelbem Buschgras, endlosen Ebenen und vereinzelten Bergketten dazwischen. Unser "Empfangskommitee" ist heute ein Zebra, das gemütlich auf dem uns zugewiesenen Unterstellplatz grast. Wir kommen dem Vierbeiner noch öfters in die Quere, egal, ob beim Spaziergang durch die Anlage, auf dem schmalen Weg zu unserem Bungalow oder auch in der Bar - wir machen besser Platz. Das Rostock Ritz erfüllt gehobene Ansprüche, entsprechend sind die Preise, aber auch das Angebot im Restaurant, wo wir erstmalig á la carte - und das zur Abwechslung mal mit einer Auswahl an vegetarischen Gerichten - "dinieren" können, in Betreuung von perfekt geschultem, sehr freundlichen Personal. Heidis Reiseveranstalter-Herz schlägt höher, und wir können auch nicht meckern, derartige Nobelherbergen leisten wir uns eher selten. Entsprechend "unstandesgemäß" würdigt Linda die exquisite Gastlichkeit, indem sie nachts beim Betreten des Bads versehentlich den Trennvorhang zwischen Schlaf- und Waschbereich aus der Wand reisst.




    Ein gemütlicher Tag liegt vor uns, mal später aufstehen wie sonst, irgendwann mittags losfahren - und für uns heißt es als allererstes: bei nächster Gelegenheit Reifen reparieren lassen. Wir haben Glück: 50 Kilometer entfernt liegt der nächste und überhaupt einzige "Ort" auf unserer Strecke, Solitaire. So desolat der Name für nicht romantisch veranlagte Menschen klingen mag: Solitaire ist der Nabel der Namib. Hier kommt jeder vorbei, hier gibt`s Proviant zu kaufen, eine Tankstelle, eine Lodge, ein Restaurant - mit einem Klasse-Apfelkuchen - und last but not least eine Autowerkstatt! Wir sind momentan offenbar die einzigen Kunden, und unser Reifen wird auf der Stelle versorgt. Innerhalb von wenigen Minuten ist das Loch dicht, der Reifen vulkanisiert und neu aufgefüllt. Mögen wir dennoch keine weitere Panne haben, die dicke Wulst auf der reparierten Stelle sieht nicht so aus, als würde sie gröberen Belastungen lange standhalten. Aber wir wollen nicht undankbar sein - viel dümmer ist es für all jene gelaufen, deren Wracks hier recht malerisch die letzte Ruhe genießen und Reisende daran erinnern, dass nicht immer alles glatt läuft, schon gar nicht in der Wüste.
   Ganz klares Kontrastprogramm zum Rostock Ritz ist unsere nächste Bleibe und Basis zur morgigen Erkundung der roten Dünen des Sossusvlei: die Weltevrede Guest Farm. Auch wenn wir uns auf den ersten Blick unwillkürlich an den grandiosen Percy-Adlon-Film "Out of Rosenheim" erinnert fühlen - der Ort hat seinen ganz eigenen Charme. Man muss sich nur darauf einlassen. "Weltevrede", was nichts geringeres als "Weltfrieden" bedeutet, mag man zunächst belächeln. Lässt man aber die grandiose Landschaft rings herum auf sich wirken, etwa die von der Abendsonne in rotes Licht getauchten Berge oder die endlose Weite, in die man von der Terrasse aus blickt, dann stellt sich unweigerlich ein Glücksgefühl ein, eine Art kleiner innerer Weltfrieden.
   Einzigartig ist der Nachthimmel hier mitten in der Einsamkeit der Wüste und abseits jeglichen Kunstlichts: Über und um uns herum von Horizont zu Horizont eine Halbkugel voller Sterne, ein Drittel des Himmels nimmt allein das helle Band der Milchstraße ein. Während unsere Mitreisenden ihren Biorhythmus längst auf das Fünfuhr-Frühaufstehen eingestellt haben und schlummern - es geht zum Sossuvlei - schnappen wir uns aus dem Zimmer Taschenlampe, Sternenkarte, Feldstecher und Kamera. So umwerfend die Einblicke mit dem Feldstecher sind, so desolat sind unsere Ergebnisse mit Langzeitbelichtungen. Ein paar Schritte vor unserer Terrasse hantieren wir mit Stativ, Taschenlampe und experimentieren mit diversen Einstellungen, bis wir steife Hälse haben. Außerdem raschelt es ständig in der Nähe, wir sehen nichts, und da draußen läuft irgendwas herum. Einmal erfasst der Strahl unserer Taschenlampe ein Dutzend Paar Augen, die uns beobachten. Wir packen lieber zusammen und gehen, ehe wir womöglich noch auf eine Puffotter oder sonst etwas treten. Auch sollten wir langsam ins Bett gehen - in vier Stunden müssen wir wieder raus.

   Im Stockfinstern brechen wir halb sechs zu den berühmten roten Dünen auf. Wir sind gut über eine Stunde unterwegs, das Fahren ist im Scheinwerferlicht verdammt anstrengend, außerdem noch schlimmer als tagsüber sind die Staubwolken vom Vordermann, zu dem man dann besser einen guten Abstand hält. Die letzten 65 Kilometer sind Nationalpark, dessen Gate um sieben Uhr öffnet. Eine ganz nette Fahrzeugschlange wartet bereits am Eingang, das Office ist gestopft voll mit Menschen - zum Großteil solchen, die sich eindeutig heute Morgen nicht die Zeit für eine kleine Dusche genommen haben. Hier wird Eintritt gezahlt und zum ersten Mal nach dem Permit verlangt. Als die Sonne über den Horizont steigt, öffnen Ranger das Tor, und die Fahrzeuge rollen durch. Als wir an die Reihe kommen, meint der Wachtposten beim Anblick des Klebestreifens auf unserer Windschutzscheibe "Accident, hm?" Unser "only the rubber" ringt ihm ein dünnes Lächeln ab.
   Wie jeden Tag in diesem Land stellen wir auch jetzt wieder fest, dass die Schönheit der Landschaft kaum steigerungsfähig sein kann. Das Flussbett des Tsauchab schlängelt sich in einem von roten Dünen gesäumten, flachen Tal noch etwa 60 Kilometer nach Westen, ehe es im Sossusvlei endet. Wasser führt es derzeit nicht. Je weiter wir in westliche Richtung kommen, umso mächtiger werden die Dünen bis sie schließlich wie ein riesiges, wogendes rotes Meer das Vlei umschließen.
   Obwohl wir uns vor unseren bei weitem sportlicheren und entsprechend fitteren Freunden auf keinen Fall blamieren wollen, sind wir doch ganz froh, uns nicht der Besteigung von Düne 45 stellen zu müssen. Die Flanke zieht sich endlos und ist elend steil. Und außerdem geht's dort auf dem schmalen Grat zu wie am Bahnhof. Gemeinsam beschließen wir, besser weiterzufahren, um beim Sossusvlei nicht gerade Mittag anzukommen. Dort wollen wir auf jeden Fall eine der höheren Dünen erklimmen. Die letzten fünf Kilometer wechselt Linda ins Auto von Heidi, Hans gesellt sich zum Hans-2-Team, denn ab hier ist 4WD vorgeschrieben und wir müssen unser Auto stehen lassen. Heidis Sohn Markus packt den Sand, Buckel und Furchen souverän, das Hans-2-Team bleibt unterwegs stecken und muss etwas buddeln und schieben. Nach einer Erfrischungspause im Schatten eines Kameldorns wollen wir die nächstgelegene hohe Düne besteigen.
   Präzise zur Mittagszeit stapfen wir los. Weshalb wir beide unsere zwei schweren Rucksäcke mit dem Kram für den ganzen Tag mit hinaufschleppen, fragen wir uns bereits im ersten Drittel. Eine Wasserflasche und ein Sack hätte gereicht. Auch wenn wir ganz schön schnaufen: Mit jedem Schritt erschließt sich uns ein weiteres Stückchen dieses traumhaften Panoramas rund um uns. Unten zieht eine Oryx-Antilope durchs Vlei - verfolgt von ein paar unerschrockenen Touristen mit Kameras. Oben am Dünenkamm muss Linda, die die letzte Steilflanke eher auf allen Vieren hinaufgekrochen ist, erst paarmal durchatmen, ehe sie sich dem Zauber dieser Traumkulisse hingeben kann. Hans macht einen wesentlich fitteren Eindruck, obwohl er schon seit geraumer Zeit auch noch Lindas Rucksack geschultert hat. Linda schämt sich ein wenig, als uns beim Abstieg eine Busladung älterer und teilsweise ganz schön beleibter Herrschaften fröhlich schwatzend und locker entgegenkommt. Man sollte wirklich mal etwas für die Kondition tun...
   Die nachmittägliche Wanderung durch den ein Kilometer langen Sesriem Canyon ist - trotz 40 Grad im Schatten - der reinste Erholungsspaziergang. Hier hat der Tsauchab vor drei Millionen Jahren begonnen, sich in uralte Gesteinsschichten einzugraben. In früheren Zeiten musste man sechs Ochsenriemen aneinanderknüpfen, um von den 30 Meter hohen Wänden mit einem Eimer an die Wassertümpel heranzukommen - daher der afrikaanse Name "Sesriem". Die enge Schlucht weitet sich zu einem akazienbewachsenen breiten Tal, das in die rote Dünenlandschaft hineinführt und schließlich im Sossusvlei endet. Da wir jedoch gerade von eben dort kommen, beenden wir unsere Wanderung bei der zweiten Akazie - für heute reicht es, wir wollen etwas Kühles zu trinken und nur noch alle Viere von uns strecken.
   Auf dem Rückweg zum Ort des Weltfriedens kehren wir in der Bar beim Sossusvlei-Gate ein. Wir sind die einzigen Gäste hier auf den Bänken im Freien, aber den Rest aus unseren liebevoll in Weltevrede zusammengepackten Proviantbeuteln teilen wir mit ganz vielen, urplötzlich auftauchenden Vier- und gefiederten Zweibeinern.
   Die schlappen 100 Kilometer zurück "nach Hause" schaffen wir gerade noch vor Sonnenuntergang. Heute betrachten wir noch lange den Sternenhimmel - wer weiß, wann wir ihn so wieder erleben. Und unsere Springböcke - die Inhaber der Augenpaare von vergangener Nacht - haben sich auch wieder in die Büsche vor unserer Terrasse geschlagen.